Legasthenie: Behinderung oder Begabung? Die folgenden Situationen sind bestimmt vielen geläufig: Beim Erklären des Weges zeigt eine Person mit der Hand nach links und sagt: "Dort vorne gehen Sie nach rechts." Unter der handschriftlich notierten Telefonnummer meldet sich nicht die gewünschte Person. Es stellt sich heraus, dass die Ziffer 69 eine 96 sein sollte. Bei einem Gespräch antwortet der Gesprächspartner auf eine Frage noch bevor diese zu Ende formuliert ist oder er spinnt die angefangene Schilderung in seinem Sinn weiter. Ein Automobilist fährt im Parkhaus an dem Hinweisschild "BESUCHER" vorbei. Auf die Frage, weshalb er vorbei gefahren sei, antwortet er: "Weil dort BESETZT geschrieben stand." Es wird zum Essen gerufen. Das Kind gibt zu verstehen, es würde sofort kommen. Als alle gegessen haben erscheint es und ist erstaunt, dass die Anderen bereits beim Abräumen sind. Es ist überzeugt, sofort reagiert zu haben. Solche Situationen sind für "normale" Menschen unverständlich. Für Legastheniker sind sie alltägliche Realität. Legasthenie wird von Aussenstehenden meist nur als Behinderung wahrgenommen. Sie sind der Meinung, Legastheniker würden an einer Gehirnstörung leiden, die zu Schwierigkeiten beim Lesen und Rechnen, zu Konzentrationsschwierigkeiten oder Hyperaktivität führen kann. Legasthenie ist ein Phänomen, dessen Rätsel noch nicht entschlüsselt sind. Es gibt eine Vielzahl von Theorien, welche in die unterschiedlichsten Richtungen zielen. Heute weiss man, dass das, was man als Legasthenie bezeichnet, nicht auf eine Funktionsstörung des Gehirns zurückzuführen ist, sondern lediglich eine andere Funktionsart darstellt. Auch weiss man, dass ungefähr 25% der Menschen mehr oder weniger auf diese "andere" Weise denken. Die so genannt "normale" Denkweise beruht auf der Fähigkeit der Abstraktion, in der Raum und Zeit klar definierte, unumstössliche Grössen sind. Die "andere" Denkweise verbindet sich mit dreidimensionalen emotionalen Bildern. Bildern, die der Legastheniker kennt. Bei dieser "anderen" Denkweise stellt sich jedoch das Problem, dass eine Vielzahl unserer Wörter sich nicht mit Bildern verbinden lassen. Dadurch erscheinen dem Legastheniker Wörter wie zum Beispiel die Artikel "der", "die", "das" oder Verhältniswörter wie "in", "auf", "ausser" als leerer Raum. Diese leeren Stellen versucht er zu überspringen oder durch andere, ihm geläufige Begriffe zu ersetzen. Je mehr solche Leerstellen in einem Satz auftauchen, desto verstörter wird der Legastheniker. Er verliert die Orientierung &endash; ein Gefühl der Verwirrung überwältigt ihn. In seiner Desorientierung versucht er mit seiner dreidimensionalen Denkweise die Situation gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren und sie mit ihm bekannten Bildern zu vergleichen. Stellen sich für ihn keine Zusammenhänge ein, sucht er so lange nach ihm bekannten Bildern, bis sein Energiehaushalt völlig zusammenbricht. Legastheniker benutzen diese Denkweise unbewusst in ihrer ganzen Wahrnehmung. Durch sie verschaffen sie sich eine vielschichtige Sichtweise und erhalten dadurch eine vielfältige Ansicht ihrer inneren Bilder. Dank dieser Begabung können sie auch die Aussenwelt aus mehr als nur einer Perspektive wahrnehmen und gewinnen somit innert Kürze mehr Informationen über eine Situation als andere Menschen in vergleichbarer Zeit. Aufgrund ihrer "anderen" Denkweise haben Legastheniker meist eine grössere Wahrnehmungs- und Einbildungskraft als Durchschnittsmenschen. Mit anderen Worten: Legastheniker verfügen über eine Begabung, die es zu fördern und zu nutzen gilt. Doch so sehr diese Vielfachwahrnehmung bei der Entwicklung neuer Ideen und Erkenntnissen von Nutzen sein kann, so verheerend ist sie für Legastheniker im Alltag bei der Verarbeitung von nicht bildhaft wahrnehmbaren Wörtern und Begriffen. Dann führt dieselbe Sichtweise zu immer grösserem Stress, zu Desorientierung bis hin zum Blackout des Denkens und zum Verlust über die Energiekontrolle. Oft äussert sich diese Überlastung in Form von Kopfschmerzen oder anderer körperlicher Leiden. Um die Signale von Legasthenie als Anzeichen eines versteckten Talents zu verstehen, müssen wir sie aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Es geht also nicht darum, Legastheniker "umzupolen", sondern ihre andere Denkweise verstehen zu lernen. Um ihre Desorientierung in Griff zu bekommen, müssen Legastheniker die unbewussten Abläufe in ihrem Hirn verstehen lernen um sie unter Kontrolle zu bringen. Bereits die Erkenntnis, dass Legasthenie kein Makel, sondern Symptom einer Begabung ist, hilft den Betroffenen, sich selber aus ihrer unfreiwilligen Isolation zu befreien. Das Ziel unserer Arbeit im Denkforum ist es, Legastheniker - seien dies Kinder, Jugendliche oder Erwachsene - auf ihre persönliche Begabung hinzuweisen und sie auf dem Weg zur positiven Nutzung ihrer räumlichen Wahrnehmung zu begleiten. Wir helfen ihnen, ihre Vielfachwahrnehmung bei Lese- und Rechenschwierigkeiten zu vermeiden und sie mit der Technik einer eigenständigen Wahrnehmung zweidimensional gedruckter Texte vertraut zu machen. Am Anfang steht eine Beratung, verbunden mit einem Training, bei dem Legasthenikern ihre andere Denkweise bewusst gemacht und ihnen aufgezeigt wird, wie sie ihre Verhaltensmuster ändern können. Bei Kindern und Jugendlichen bemühen wir uns, auch bei Eltern und Lehrkräften die Einsicht in die "andere" Denkweise von Legasthenikern zu fördern.